Seit Jahrtausenden denken Menschen über ganz große Fragen nach. Und Kinder sind extragut darin, sie zu stellen – und auch zu beantworten! Deshalb laden wir euch ein, mit uns in den nächsten Wochen die Gedanken sausen zu lassen.
Von Jörg Bernardy | Illustration: Johanna Knor
Dein Kopf ist wie ein Vogelhaus. Das hat vor mehr als 2.400 Jahren ein sehr weiser Mann gesagt. Platon hieß er, und er meinte damit, dass in deinem Kopf die Gedanken wie Vögel ein und aus fliegen: Es gibt kleine und große, bunt gefiederte und schwarz-weiße, laute und leise, wild durcheinander zwitschernde Vögel aller Art. Meist ist ihre Zahl so groß, dass wir nicht wissen, wie viele es eigentlich sind und wo sie sich überall herumtreiben.
Platon war ein berühmter Philosoph. So nennt man Menschen, deren Beruf das Nachdenken ist. Philosophen versuchen die Welt zu verstehen – und dafür stellen sie sich selbst und anderen Menschen viele Fragen.
Ich bin auch so ein Berufs-Nachdenker. Mich und meine Philosophen-Kollegen interessieren dabei allerdings keine Fragen wie: In welcher Stadt steht der Eiffelturm? Wie viel Uhr ist es? Oder wie heißt der Zauberer aus den Romanen von J. K. Rowling? Denn auf solche Fragen gibt es genau eine richtige Antwort – ähnlich wie bei Mathearbeiten und Vokabeltests.
Als Philosoph beschäftige ich mich mit anderen, manche sagen »großen« Fragen: Wofür ist Leben da? Bin ich mein Körper? Was ist gerecht? Über solche Fragen kann man lange grübeln, und man kann vor allem nicht nur eine Antwort finden, sondern zwei oder drei oder noch mehr. Und alle können richtig sein.
Das Großartige am Philosophieren ist nämlich: Du musst keine Angst davor haben, dass eine Antwort nicht stimmen könnte und jemand mit einem roten Stift »falsch« drunterschreibt. Stattdessen geht es darum, Dinge zu hinterfragen, die Welt genauer oder anders zu betrachten – und über sie zu staunen.
Aber warum stellen wir Menschen uns überhaupt solche großen Fragen?
Wenn du genau schaust, siehst du, dass in Philosophie zwei Wörter stecken: Phil und Sophie. Vielleicht kennst du sogar einen Phil oder eine Sophie. Diese Namen klingen nicht nur schön, sie haben auch eine Bedeutung. Im Altgriechischen steht philia für Liebe und sophia für Weisheit. Philosophie bedeutet also Liebe zur Weisheit.
Durchs Fragenstellen und Antwortensuchen kann sich unser Blick auf die Welt verändern – und wenn viele davon erfahren, verändert sich manchmal auch die Welt. Das ist so bedeutsam, dass die Philosophie sogar eine Wissenschaft ist. Diese Forscherinnen und Forscher stehen nicht im Labor und machen Experimente, sie arbeiten in ihren Köpfen und beschäftigen sich mit Fragen, die alle etwas angehen: Wie können wir das Leid auf der Welt verkleinern? Gibt es etwas, das alle Menschen miteinander verbindet? Wie sollten wir Tiere behandeln? Welche Rechte sollten Kinder von Geburt an haben?
Und seit wann denken wir Menschen über solche großen Fragen nach? Schon sehr, sehr lange, mehr als 2.000 Jahre, wie man an Platon und seiner Vogelhaus-Geschichte sieht. Platon war ein Schüler von Sokrates, der als Erfinder der Philosophie in Europa gilt. Der lebte in der Stadt Athen und sagte einmal: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Sokrates spazierte gern durch die Straßen und verwickelte seine Mitbürger in Gespräche, in denen es manchmal hitzig zuging. Er fragte zum Beispiel: Was macht unsere Welt schön? Woher wissen wir, was wahr ist? Seine Fragen entfachten damals einen regelrechten Wettstreit um die neuesten Gedanken und -Ideen.
Auf Sokrates folgten im alten Griechenland viele weitere berühmte Denker. Auch die alten Römer entdeckten die Philosophie. Im Jahr 161 wurde sogar ein berühmter Philosoph Kaiser, er hieß Mark Aurel. Anders als die meisten römischen Herrscher vor ihm setzte er sich für Gerechtigkeit ein und sorgte auch für die Armen und Schwachen. »Wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann, der befiehlt es!«, sagte er.
Mit dem Ende des Römischen Reiches gerieten in Europa auch die großen Fragen in Vergessenheit. Die Bibel wurde zum wichtigsten Buch, und über viele Jahrhunderte bestimmte der Papst darüber, wie die Menschen leben sollen. Zum Glück schrieben Philosophen im heutigen Irak, in Syrien, Afghanistan und Ägypten die Fragen und Gedanken der alten Philosophen nieder – und entwickelten daraus ihre eigenen Ideen. So ging das alte Wissen nicht verloren und konnte von den italienischen Denkern vor rund 700 Jahren wiederentdeckt werden.
Auch in Deutschland gab es später berühmte Philosophen, zum Beispiel Immanuel Kant. Vor mehr als 200 Jahren schrieb er: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Wenn die Menschen in aller Welt selbst nachdenken, glaubte Kant, werden sie auch friedlich miteinaner leben können.
Doch noch heute führen Menschen Krieg gegeeinander, zweimal gab es sogar einen Weltkrieg. Nachdem im Zweiten Weltkrieg vor 85 Jahren viele Deutsche Hitler und den Nationalsozialisten gefolgt waren und Millionen Juden ermordet hatten, erinnerte die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt die Menschen daran, was schon Kant gesagt hatte: Niemand soll unüberlegt wiederholen, was andere sagen, sondern selbst überlegen. Daran müssten die Menschen immer wieder erinnert werden. »Denken ohne Geländer, das ist in der Tat, was ich zu tun versuche«, sagte Hannah Arendt und glaubte fest daran: Aus guten Gedanken entstehen gute Taten.
Wenn man gemeinsam philosophiert, kann man die Welt also ein bisschen besser machen. Dafür gilt nur eine wichtige und sehr einfache Regel: Alle Gedanken sind erlaubt! Es gibt somit auch keine dummen Fragen oder Antworten, sondern nur dumme Menschen, die glauben, auf alles die eine richtige Antwort zu wissen.
Um sich große Fragen zu stellen und Antworten darauf zu finden, braucht es nicht mehr als Neugier – und darin sind Kinder wahre Meister! Denn ihr stellt ja jeden Tag Fragen, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Dass Philosophen viel von Kindern lernen können, wusste schon Sokrates. Er traf sich regelmäßig mit jungen Leuten und grübelte mit ihnen etwa über die Frage nach, was Glück bedeutet.
Ich mache es ihm heute nach und treffe mich regelmäßig mit Kindern zum gemeinsamen Nachdenken. Dabei staune ich oft sehr über die vielen klugen und verrückten Ideen. Auf die Frage »Wem gehört die Welt?« antwortete ein Mädchen einmal: »Die Welt gehört dem, der sie genießt.« Ist das nicht ein weiser Gedanke? Ich wette, auch ihr findet erstaunliche Antworten auf große Fragen. Deshalb lade ich euch in den kommenden Wochen ein: Öffnet die Vogelhäuser in euren Köpfen, und lasst die Gedanken frei!
Jörg Bernardy ist Philosoph und trifft regelmäßig Kinder, um gemeinsam mit ihnen Antworten auf große Fragen zu finden. Er begleitet unsere neue ZEIT LEO-Serie »Die Zukunftsdenker«